Mittwoch, 30. September 2009

Die WM der Radkuriere

Vorige Woche fand in Tokio die WM der Fahrradkuriere statt. Rund 500 Kuriere aus aller Welt trafen sich zum alljährlichen Mega-Happening ihrer Zunft, um ihre Kräfte zu messen und Freunde zu treffen. 



Alles begann mit einen Vortreffen in Kioto, von wo aus 70 Kuriere zu einer Fahrradtour nach Tokio aufbrachen. Die 600 Kilometer legten viele Kuriere auf Bahnrennrädern zurück, die einen Starrlauf haben. Fixies wird diese Modeerscheinung genannt. Das heißt, die Radler konnten weder am Berg schalten, noch ihre Beine im Leerlauf ausruhen, da die Pedale immer mitdrehen.

Auf der künstlichen Insel Daiba in Tokio wartete dann eine Vielzahl von Events. Hier auf dem Foto ist im Vordergrund Veit Rückert aus Stuttgart beim Fahrradwettstehen zu sehen. Nach den ersten drei Minuten muss man es einhändig, dann freihändig, dann einfüßig und dann freifüßig in der Balance halten. Nach seinem lockeren Sieg im ersten Halbfinale am Dienstag abend zeigte der amerikanische Seriensieger Mike Cobb auf Veit, der im zweiten Halbfinale freihändig auf dem Fahrrad zu meditieren scheint. „Der da wie ein Zen-Mönch auf dem Fahrrad sitzt, auf den musst du achten.“ Und er behielt recht. Im Finale musste sich Veit nur knapp dem Amerikaner geschlagen geben.

Verrückte Fahrradideen dürfen natürlich auch nicht fehlen. Hier ein selbstdesingtes Hochrad eines japanischen Designers. Er nahm damit natürlich nicht an den Rennen teil. "Es sieht gut aus, ist aber sehr langsam", sagte er.
Der Höhepunkt war das Hauptrennen am Mittwoch. Dessen Regeln waren so hart wie der Alltag eines Kuriers. Anders als in bisherigen WMs erhielten die Kuriere nicht mehr einen Liste mit Zielen, die sie abklappern mussten. Stattdessen sammten sie in dem auf maximal zweieinhalb Stunden befristeten Rennen dreimal einen Packen Aufträge ein, die selbst nach Priorität und Strecke ordnen und dann ausliefern mussten. 

Gewinner war, wer das meiste Geld in der kürzesten Zeit einfuhr. Wer das Zeitlimit verfehlte, wurde disqualifiziert. „Das ist sehr nahe am Berufsalltag und für ein Rennen sehr anspruchsvoll, aber auch sehr attraktiv“, sagte der Kurier-Veteran David Beerli aus Basel, der eine Radkurier-EM mitorganisiert hatte. Doch hier in Tokio ist er darüber nicht vergrätzt. „Ich habe wieder viele unterschiedliche Typen getroffen, die eines eint, die Liebe zum Fahrrad.“
Seine Beschreibung erklärt für mich die Begeisterung, die in der Zunft herrscht. Fahrradkurier zu sein ist weniger ein Job, als eine Besessenheit. Der Job hat offensichtlich Suchtpotenzial. Freude am Fahren einmal anders als durch den Tritt auf Gaspedal definiert: 

Der Adrenalinausstoß im Temporausch verbindet sich mit dem Gefühl, körperlich etwas geleistet zu haben. Viele haben den Job als Notlösung begonnen und können sich trotz knallharter Arbeitsbedingungen nicht mehr von ihm lossagen.
Wie bei den meisten Sportarten ist allerdings mit Ende 30 Schluss, denn Kuriere - besonders die in der Mega-City Tokio, reißen manchmal bis zu 100 Kilometer pro Tag ab. Viele wechseln später ins Büro, andere treten kürzer, um länger Kurier bleiben zu können wie Joe Lukow aus Toronto/Kanada, kleines Bäuchlein, graue Haare, 52 Jahre alt. Er tritt bereits 27 Jahre in die Pedale, derzeit allerdings nur drei Tage die Woche im innerstädtischen Nahverkehr. Man ist halt nicht mehr der jüngste. Den Rest der Woche buttert er seinen Lebensunterhalt als professioneller Zocker mit Pferdewetten und Poker auf. Ende des Jahres will er sein Rad ganz an den Nagel hängen und sich nur noch durch Glücksspiel ernähren.
Die Krise und der Siegeszug des Internets trifft allerdings auch die Radkuriere in den meisten Ländern hart. Tokios Kuriere haben nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers im Herbst 2008 deftige Auftragsrückgänge verzeichnet, berichtet Masayuki Watanabe, der seinen Job als Werbefotograf fürs Kurierdasein aufgegeben hat. Laura Downey aus Kalifornien hat sogar eine Woche vor ihrem Abflug nach Tokio ihren Job verloren. Ihr Geschäft leidet zusätzlich darunter, dass in den USA immer mehr Anwälte beglaubigen auch elektronisch über das Internet abwickeln können. Und Anwälte, Designstudios machen in den USA rund 80 Prozent des Umsatzes aus. Doch sie lässt den Kopf nicht hängen. Die Liebhaberin von japanischen Manga-Komiks hat kurzerhand ihren Aufenthalt in Japan bis Jahresende verlängert, um auf einem Öko-Bauernhof auf der nördlichen Insel Hokkaido natürlichen Anbau zu erlernen. „Ich will etwas nützliches mit nach Hause nehmen.“
Zwei Artikel über die WM finden sich Online hier im österreichischen Standard und hier in der Ulmer Südwestpresse, ein weiterer wurde in der FTD veröffentlicht.

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