Donnerstag, acht Uhr morgens. Der Shinkansen fährt pünktlich ab, viele Plätze sind noch frei. Die Tokioter streben zur Arbeit. Es sieht fast wie ein normaler Arbeitstag aus. Doch für mich ist dieser Donnerstag morgen alles andere als normal. Nachdem die deutsche Botschaft Mittwoch Nacht eine Ausreiseempfehlung ausgegeben hat, verlasse ich die Stadt, die seit fast elf Jahren meine Heimat ist. Ich fahre in die Kansai-Region, wo bereits die meisten deutschen Journalisten Quartier bezogen haben.
Es fühlt sich an, als verrate ich Tokio. Verrate meine Freunde, die bleiben. Die Mitarbeiter im Foreign Correspondents's Club of Japan (FCCJ), die in der letzten Woche den Club rund um die Uhr für Journalisten aus aller Welt offen gehalten haben. Die sich zur Arbeit durchgeschlagen, obwohl die Zugverbindungen blockiert waren, um Pasta zu servieren oder Pressekonferenzen zu organisieren wie die vom Toshiba-AKW-Ingenieur Masashi Goto, der als erster Industrieinsider offen vor einem Tschernobil gewarnt hat. Die Stadt scheint das zu spüren. Die Passanten schauen mich, den Koffer schiebenden Ausländer, aus den Augenwinkeln an.
Als ich Morgens um kurz nach 7 Uhr den FCCJ verlasse, habe ich einen Kloß im Hals. Denn ich weiß nicht, wann ich wieder kommen werde, und wie die Stadt dann aussehen und sich anfühlen wird. Seit Kaiser Akihito sich am Mittwoch erstmals auf dem Höhepunkt einer Krise in einer Fernsehansprache an die Nation gewendet hat, um Hoffnung zu spenden, ist meine Hoffnung gesunken, dass der Gau im Kraftwerkskomplex Fukushima noch verhindert werden kann.
Noch besteht Hoffnung, das schlimmste abzuwenden. Aber im Katastrophenfall wird das Leben nicht mehr unbeschwert sein, selbst wenn Tokio von der Strahlung verschont werden sollte, wofür einiges spricht. Denn in der Nachbarschaft läge dann ein ein riesiges radioaktiv verseuchtes Brachland.
Meine größte Sorge ist allerdings eine Massenflucht, die mehr Tote an einem Tag als der Durchzug einer strahlenden Wolke in einer Lebenszeit fordern könnte. Ja, bisher reagieren die Japaner mit ihrer berühmten Ruhe auf die Krise, gehen diszipliniert zur Arbeit als sei nichts passiert. Sie sagten mir auch, sie wollten den Anweisungen der Regierung und der Retter wie bei Erdbeben folgen.
Aber den Fluchtreflex zu überwinden, erfordert bei einem möglichen Gau vor der Haustür weit mehr Energie als bei einem Erdbeben. Ein Erdbeben kommt ruckartig. Danach geht es je nach Stärke entweder so weiter wie bisher oder man muss aufräumen, oder aufbauen, oder man ist tot. Durch die recht häufigen Beben lernt man dieses Verhalten rasch. Genau wie die Japaner habe ich mich von den zahllosen Nachbeben kaum ablenken lassen und auch dann noch getippt, wenn mein Arbeitsplatz im FCCJ auf der 19. Etage des Yurakucho Denki Buildings schaukelte wie ein Schiff auf hoher See.
Die Angstkurve bei einem Atomunglück hingegen steigt über Tage und Wochen immer weiter an. Der Druck nimmt zu. Dennoch kommen die Menschen zur Arbeit, weil die Routine sie ablenkt und Sicherheit gibt, weil sie ihren Kollegen nicht hängen lassen wollen, oder schlicht Angst haben, ihren Job zu verlieren.
Eines der wenigen Ventile gegen die Ohnmacht ist das Horten Lebensmitteln und -bedarf, um sich eine Woche vor der radioaktiven Wolke in der Wohnung verstecken zu können. Selbst Klopapier ist inzwischen knapp. Ein Knall im AKW könnte den seelischen Panzer vielleicht zersprengen und die Leute ungeplant flüchten lassen.
Der akute Strommangel verstärkt die düstere Stimmung noch. Um Strom zu sparen, sind in allen Gebäuden viele Deckenlampen ausgeschaltet oder herausgenommen worden. In der Nacht werden sogar Neonreklamen ausgeschaltet. Ich habe Tokio, mein glitzerndes Juwel, noch nie so dunkel und ruhig gesehen. Die angespannten Seelen lachen in den Büros nicht, grüßen kaum. Manchmal wirken sie mir so wie Verurteilte, die gefasst zum Schafott schreiten. Auch ich ertappe mich dabei, Abschied zu nehmen von dem bekannten Leben.
Doch als ich etwa zweieinhalb Stunden später in Kioto aus dem Shinkansen steige, verfliegen die Schatten. Wie in Tokio vor dem Beben quellen die Kaufhausregale über. Die Menschen schlendern durch die Straßen. Lachen und plappern. In der Nacht funkelt die Stadt wie ein Kristallleuchter. Wenn ich nicht den Fernseher anstellen würde, wäre Tokio und der Super-Gau auf einmal weit weg. Ich fühle mich wohl. Sicher. Und schuldig. „Gut, dass du nach Kioto gefahren bist“, mailt mir eine japanische Bekannte, „die Lage ist unstabil und wird von Minute zu Minute schlimmer.“
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